Die sprechende Aktie

Das waren noch Zeiten.
Ein Wertpapier war auf tatsächlich wertvollem Papier gedruckt. Die Druckerei – in diesem Fall die Druckerei Gebauer-Schwetschke – verewigte sich am unteren Rand der Aktie. Auch die Druckerei war nicht irgendeine Druckerei. Das Stadtarchiv nennt sie eine der wirkungsmächtigsten Verlage und Druckereien des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie veröffentlichte Georg Walchs Lutheredition und auch Klopstocks Werke. Ein Jahr nach dem Druck der Aktie der Gottfried Lindner AG wurde die Druckerei selbst Aktiengesellschaft. Das ist doch etwas ganz anderes als eine Girosammelstelle mit digitalem Eintrag wie heute. Die Aktie im Nennwert von 1000 Mark wurde am
1. September 1922 ausgegeben. Ein roter Stempel verweist darauf, dass eine Umstellung auf 100 Goldmark erfolgte. Die Goldmark war jedoch nie Währung. Der Verweis bezieht sich nur darauf, dass eine Reichsmark 0,358 Gramm Gold entsprach. Mit diesem Betrag war der Inhaber mit dabei: beim Vermögen genauso wie bei Gewinn und Verlust. Die Aktie trägt die Nummer 23169. Mindestens so viele Aktien gab es also. Wer besaß sie? Waren sie frei handelbar? Die Aktien besaßen damals relativ wenige Personen. Die Aktiengesellschaft wurde 1905 gebildet, um frisches Kapital für Investitionen zu beschaffen. Das Stammkapital betrug damals 600.000 Mark. Frei handelbar waren sie damals nicht. An die Mitteldeutsche Börse in Leipzig ging die Lindner AG erst 1935.
Im Aufsichtsrat vertraten die Kapitalseite und damit die Eigentümer zwei Kaufleute, ein Bankier, ein Ingenieur, ein Jurist und ein Kommerzienrat. Halle im 19. Jahrhundert eine der größten Bankendichten Deutschlands, darunter auch das Bankhaus Steckner. Die umsatzstärksten Unternehmen kamen damals aus
Mitteldeutschland und brauchten Banken. Links unten auf der Aktie unterschrieb Kurt Steckner, Bankier und Aufsichtsratsvorsitzender.
Die Steckners waren eine mächtige Bankiersfamilie in Halle. Ein Wohnhaus war das derzeitige Kunstforum in der Bernburger Straße in Halle. Auch das repräsentative Gebäude der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle am Neuwerk – die sogenannte Steckner-Villa – gehörte dem Bankhaus. Rechts unten findet sich die Unterschrift von
Franz Westermann, dem deutschlandweit bekannten Industriemanager der Lindner AG. Er war einer der Pioniere, die den Fordismus in Deutschland einführten und damit die Industrialisierung in Deutschland weiter voran trieben. Auf die Aktien gab es ein Bezugsrecht für Dividenden. Die Ausübung wurde mit dem Stempel unten rechts bestätigt. Heute hat diese Aktie nur noch einen immateriell-historischen Wert. Die Gottfried Lindner AG wurde nach dem zweiten Weltkrieg liquidiert. Die Aktien verloren damit ihren Wert. Ein schönes Stück Geschichte aus der Heimat!

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